Neue Justiz, Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft 1950, Seite 153

Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 4. Jahrgang 1950, Seite 153 (NJ DDR 1950, S. 153); Gesellschaft ist. Das ist die Staatskonzeption, die ein Jahrhundert später die Aufklärung übernahm und die ihre politisch - polemisch schärfste Zuspitzung bei Rousseau fand: der freie, „natürliche“ Mensch wird dem faktischen Zustand der Gesellschaft entgegengestellt. Die Natur ist alles, die Gesellschaft ist nichts; darum sprengt die Natur die Fesseln der Gesellschaft. „Zurück zur Natur“, das war die Losung, mit der Rousseau die französische Revolution einleitete. b) Das „Politische Traktat“ (Das gesellschaftliche Bewußtsein) Kurze Zeit nach dem Erscheinen des „Theologisch-politischen Traktats“ wird durch den Gang der politischen Ereignisse Spinozas Denken erschüttert. Er muß sehen, daß das Vertrauen, das er in die Vernunft der Menschen gelegt hatte, eine Illusion war, daß er die Macht der Affekte und Begierden, der Gewohnheit und der Eilten Vorurteile unterschätzt hatte. Die politische Bewegung ging nicht den Weg der Vernunft; das Volk schritt nicht vorwärts zur Demokratie, es fiel zurück in den Aberglauben, folgte den alten Mächten der Kirche und der Monarchie. Diese erwiesen sich als stärker als die neue von Spinoza entdeckte Kraft, der denkende Verstand. Wäre Spinoza ein gewöhnlicher Kopf gewesen, so hätte er resigniert, so wäre sein Denken der Übermacht der Verhältnisse erlegen. Aber Spinoza war ein großer Dialektiker. Das scheinbar unüberwindliche Fremde war ihm nicht die schlechthin gestaltende Macht; auch sie war ihm Gegenstand der Erkenntnis. Von dem unverlierbaren gesicherten Boden des menschlichen Wesens selbst, das denkend und erkennend dem Gegenstand gegenübertritt, war ihm die Erkenntnis der Macht der Verhältnisse nur der Ansporn, um die Aufgabenstellung an Vernunft und Denken zu steigern. Mit der Macht der Verhältnisse will er das Denken zu einer ebensolchen Macht emporwachsen lassen, damit das menschliche Wesen auf einer höheren Ebene, der Macht der faktischen Verhältnisse gegenüber sein Dasein behaupten kann. Spinoza hatte gemeinsam mit seinem Freunde de Witt das freiheitliche Regime in Holland gegen den Ansturm der monarchisch-klerikalen Bestrebungen der Oranier verteidigt. Nun wandten sich die politischen Geschicke gegen seine republikanischen Freunde. Ludwig XIV. begann im Jahre 1672 den Krieg gegen die Niederlande; seine Heere eroberten das Land fast ohne Widerstand. Es zeigte sich, daß das junge Staatswesen Hollands noch nicht stark und mächtig genug war. De Witt hatte im Inneren die freiheitliche Grundlage gelegt, die äußere Sicherheit des Staates aber vernachlässigt. Nun geschah etwas für Spinoza völlig Unerwartetes. Statt diese freiheitliche Grundlage, die die Regierungszeit de Witts gebracht hatte, zu verteidigen, fiel das Volk wieder in die alten Gewohnheiten und Vorurteile zurück, wandte sich der Monarchie der Oranier zu und überließ mit ihr der Kirche wieder unbeschränkte Gewalt. Man verleugnete nicht nur das, was die Regierung de Witts gebracht hatte. Die Wut des Volkes richtete sich sogar gegen die Person de Witts; er wurde bestialisch ermordet. Dieser Mord an einem republikanisch, freiheitlich gesinnten Staatsmann durch das Volk selbst einem Staatsmann, der dazu der Freund Spinozas war und in dem er den Verwirklicher seiner Erkenntnisse sah , beeindruckte Spinoza äußerst stark. Es wird berichtet, daß er in der Nacht nach diesem Mord in der Giebelstube des Hauses des Malermeisters Hendrik van den Spyk zu Haag, wo er zu Miete lebte, ein Manifest verfaßte, das er in der Nähe des Tatortes des Mordes öffentlich anschlagen wollte. Der besorgte Hausherr erkannte, welcher Gefahr sich Spinoza damit aussetzen würde und schloß ihn daher in seiner Dachstube ein. Das Manifest ist nicht erhalten. Aber unter dem Einfluß dieser Ereignisse beginnt Spinoza die Arbeit an seinem zweiten Traktat über den Staat, dem „Politischen Traktat“, das er nicht beendete und das seine Freunde im Jahre seines Todes aus seinem Nachlaß veröffentlichten. Hier tritt uns eine ganz andere Geisteshaltung entgegen. Spinoza scheint seinen Standpunkt radikal geändert zu haben. Er feiert nicht wie im ersten Traktat die Kraft des denkenden Verstandes. Im Gegenteil! Er legt mit großem Ernst und Nachdruck den Finger gerade auf die Macht des Unvernünftigen, des Spontanen, des nicht Beherrschten, der Passivität. Er erkennt: die Wirkkraft der gesellschaftlichen Verhältnisse läßt sich nicht durch einfache Vernunftsschlüsse beseitigen, da sie die Wirklichkeit selbst ist, die das Leben der Menschen gestaltet, ihr Bewußtsein bestimmt. Dieser Tatsache der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse gilt es ins Gesicht zu sehen. Mag sich die ganze Kraft des menschlichen Wesens gegen diese Verhältnisse empören, sie sind doch wirklich und die Empörung darf den Blick für die Wirklichkeit nicht trüben. Gerade die Negation der Verhältnisse muß den denkenden Verstand schärfen, die Negation muß die Kraft der Erkenntnis werden. In diesem Sinne heißt es in den einleitenden Betrachtungen zu Spinozas zweiten Traktat: „Als ich mich daher mit der Staatslehre zu beschäftigen anfing, war es nicht meine Absicht, etwas Neues und Unerhörtes zu geben; ich wollte nur das mit der Praxis am meisten übereinstimmende auf sichere und unanfechtbare Weise darstellen oder es aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur selbst herleiten. Um das Gebiet dieser Wissenschaft mit ebensolcher Unbefangenheit zu durchforschen wie das der Mathematik, habe ich mich sorglich bemüht, die menschlichen Handlungen nicht zu verlachen, nicht zu beklagen, auch nicht zu verabscheuen, sondern zu verstehen. Ich habe deshalb die menschlichen Affekte, als da sind Liebe, Haß, Zorn, Neid, Ruhmsucht, Mitleid und die übrigen Gemütsbewegungen nicht als Fehler der menschlichen Natur betrachtet, sondern als ihre Eigenschaften, die ihr gerade so gut zu eigen sind, wie der Natur die Luft, die Hitze, die Kälte, der Sturm, der Donner und dergleichen; mögen sie auch unbequem sein, notwendig sind sie doch und sie haben ihre bestimmten Ursachen, aus denen wir ihre Natur zu erkennen suchen, und der Geist ergötzt sich an ihrer wahren Betrachtung gerade so wie an . der Erkenntnis dessen, was den Sinnen angenehm ist"30). Spinoza will also eine Staatslehre schaffen, die die Erkenntnis der Wirklichkeit selbst ist. Er will das Bewußtsein des Menschen sehr viel zentraler an die Mächte und Kräfte heranzuführen, die' seine Praxis bestimmen. Deshalb taucht hier der Staat als konkreter Machtfaktor auf. Im Unterschied zum ersten Traktat steht im Mittelpunkt des zweiten Traktats nicht der natürliche, der „freie“ Mensch, der unbeeinflußt von allem Äußeren seine Vernunftsschlüsse ziehen und verwirklichen kann. Es bleibt dem denkenden Verstand, will er die wirklichen Verhältnisse begreifen, vielmehr kein anderer Weg als der Weg in diese Wirklichkeit hinein. Spinozas Blick richtet sich damit auf das Ganze der Zeitverhältnisse. Er sieht die konkrete Gestalt der Gesellschaft und des Staates, er sieht, wie die Menschen in beiden verflochten, wie sie deren Produkt sind. Er erkennt, daß man die Herrschaft über diese Verhältnisse nur bekommen kann, wenn man sie zunächst so erkennt, wie sie sind. Es kommt eben in der Wissenschaft nicht darauf an, „die menschlichen Handlungen zu verlachen, zu beklagen, zu verabscheuen, sondern sie zu verstehen“, d. h. sie aus ihren Ursachen heraus zu erklären. Haben wir diese durchschaut, dann haben wir offengelegt, aus welchen Kräften sie entstehen, dann können wir die Quellen regulieren, aus denen sie entstammen und können unsere Hand an die Quelle der Kräfte legen. Spinoza weist auf die Machtlosigkeit und Lächerlichkeit all jener Theorien hin, die die Wirklichkeit nicht sehen und an deren Stelle bloße Vorstellungen oder ethische Gesetze setzen wollen. Er verwirft jetzt auch die von ihm selbst im ersten Traktat vorgebrachte Konstruktion, daß die Macht der Affekte und Leidenschaften so leichthin durch die Vernunft beseitigt werden könne. „Das aber ist gewiß, daß die Menschen notwendig den Affekten unterworfen sind und von solcher Geistesart, daß sie die Unglücklichen bemitleiden und die Glücklichen beneiden, daß sie zur Rache mehr als zum Mitleid neigen und daß außerdem SO) Abhandlungen vom Staate in Baruch de Spinozas. Sämtliche Werke Bd. II S. 56/57. 158;
Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 4. Jahrgang 1950, Seite 153 (NJ DDR 1950, S. 153) Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 4. Jahrgang 1950, Seite 153 (NJ DDR 1950, S. 153)

Dokumentation: Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 4. Jahrgang 1950, Ministerium der Justiz (MdJ) der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Deutscher Zentralverlag, Berlin 1950. Die Zeitschrift Neue Justiz im 4. Jahrgang 1950 beginnt mit der Ausgabe Heft Nummer 1 im Januar 1950 auf Seite 1 und endet mit der Ausgabe Heft Nummer 12 im Dezember 1950 auf Seite 516. Die Dokumentation beinhaltet die gesamte Zeitschrift Neue Justiz im 4. Jahrgang 1950 (NJ DDR 1950, Nr. 1-12 v. Jan.-Dez. 1950, S. 1-516).

Das Recht auf Verteidigung - ein verfassungsmäßiges Grundrecht in: Neue Oustiz Buchholz, Wissenschaftliches Kolloquium zur gesellschaftlichen Wirksamkeit des Strafverfahrens und zur differenzier-ten Prozeßform in: Neue ustiz ranz. Zur Wahrung des Rechts auf Verteidigung beim Ausbleiben des gewählten Verteidigers in der Haupt-ve rhandlung in: Neue Oustiz rtzberg Vorbeugung - Haupt riehtung des Kampfes gegen die Kriminalität in den sozialistischen Ländern in: Neue Oustiz Heus ipge. Der Beitrag der Rechtsanwaltschaft zur Festigung der Rechtssicherheit in: Neue Oustiz Hirschfelder Nochmals: Zur Wahrung des Rechts auf Verteidigung in: Justiz Plitz Те ich er Weitere Ausgestaltung des Strafver- fahrensrechts in der in: Justiz Schröder Huhn Wissenschaftliche Konferenz zur gerichtlichen Beweisführung und Wahrheitsfindung im sozialistischen Strafprozeß - Anweisung des Generalstaatsanwaltes der wissenschaftliche Arbeiten - Autorenkollektiv - grundlegende Anforderungen und Wege zur Gewährleistung der Einheit von Parteilichkeit, Objektivität, Wissenschaftlichkeit und. Gesetzlichkeit in der Untersuchungsarbeit Staatssicherheit im Ermittlungsverfahren, Dissertation, Vertrauliche Verschlußsache AUTORENKOLLEKTIV: Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei VerdächtigenbefTagungen in der Untersuchungsarbeit Staatssicherheit auch dann erforderlich, wenn es sich zum Erreichen einer politisch-operativen Zielstellung verbietet, eine Sache politisch qualifizieren zu müssen, um sie als Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen, der mit Befugnisregelungen des Gesetzes erforderlichenfalls zu begegnen ist, oder kann im Einzalfall auch eine selbständige Straftat sein. Allein das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft können jedoch wesentliche politisch-operative Zielsetzungen realisiert worden. Diese bestehen insbesondere in der Einleitung von Maßnahmen zur Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit im Untersuchungshaftvollzug Staatssicherheit Aufgaben zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit während des gesamten Untersuchungshaftvollzuges Grundanforderungen an die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit. Die Gewährleistung der Einheit von Parteilichkeit, Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Gesetzlichkeit erfordert, daß auch die Beschuldigtenvernehmung in ihrer konkreten Ausgestaltung diesem Prinzip in jeder Weise entspricht.

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